Mehr und mehr Obdachlose aus der Mittelschicht
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Auf Einladung des Kreisverbandes Remscheid der LINKEN referiert er am Mittwoch, 17. Februar, ab 19 Uhr in der Zentralbibliothek der Stadt Remscheid, Scharffstr. 4 – 6, über „Armut in einem reichen Land“. Butterwegge zählt zu den wenigen linken Armutsforscher der Bundesrepublik; als Wissenschaftler und als engagierter Bürger nahm er in der Vergangenheit wiederholt zu aktuellen und politisch brisanten Fragen öffentlich Stellung. Zuletzt sind seine Bücher „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ (2014), „Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?“ (2015) und „Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition“ (2016) erschienen. |
von Prof. Dr. Christoph Butterwegge
Während die Statistiker beispielsweise genau erfassen, wie viele Bergziegen und Zwerghasen es in Deutschland gibt, fehlen offizielle Zahlen darüber, wie viele Menschen ohne Wohnung dastehen. Umso notwendiger ist die Forderung, für eine solide Datengrundlage zu sorgen, die es bisher nur in wenigen Bundesländern gibt. Nach einem deutlichen Rückgang während der 1990er-Jahre existieren laut Schätzungen der BAG Wohnungslosenhilfe in Deutschland heute wieder mehr als 335.000 Wohnungslose, darunter 29.000 Kinder und minderjährige Jugendliche. 39.000 Menschen leben dem Dachverband der Wohnungslosenhilfe zufolge auf der Straße. Darunter befinden sich freilich immer weniger Berber oder Trebegänger, wie die „klassischen“ Obdachlosen genannt wurden. Stattdessen steigt die Zahl der Mittelschichtangehörigen, von (Solo-)Selbstständigen, Freiberuflern und akademisch Gebildeten, die gewissermaßen „in die Gosse“ abrutschen.
Schon jetzt haben etwa ein Drittel der Wohnungslosen einen Migrationshintergrund – Tendenz steigend. Vor dem Hintergrund der aktuellen „Flüchtlingskrise“ kann es zu einer dauerhaften ethnischen Unterschichtung der Gesellschaft kommen, wenn Geflüchtete sozial ausgegrenzt, nach dem Verlassen der Erstaufnahmeeinrichtungen in Wohnsilos am Rande der Städte gedrängt und hinsichtlich ihrer (Aus-)Bildung, Gesundheit, Freizeitgestaltung und Kulturangebote diskriminiert werden. Falls mit der Begründung, dass die Bundesrepublik finanziell überfordert sei, Sozialleistungen gekürzt, an strengere Anspruchsvoraussetzungen geknüpft oder bestimmten Zuwanderergruppen ganz vorenthalten werden, kann sich „Dritte-Welt-Elend“ auch in deutschen Städten ausbreiten. Um die Hauptgefahr der ethnischen Unterschichtung und der Ghettoisierung von Flüchtlingen zu bannen, ist eine inklusive Sozial-, Bildungs-, Gesundheits-, Stadtentwicklungs- und Wohnungsbaupolitik von Bund, Ländern und Kommunen ebenso notwendig wie eine progressivere Steuerpolitik.
Kaum jemand spricht über Wohnungsnot, die vielen Menschen droht, wenn man dieser Gefahr nicht entschlossener als bisher entgegenwirkt. Die überraschende Schließung ihres Betriebes, die Kündigung des eigenen Arbeitsverhältnisses sowie Ehekonflikte und Suchterkrankungen sind zwar Auslöser, nicht jedoch Ursachen der zunehmenden Wohnungslosigkeit, die in den bestehenden Gesellschaftsstrukturen, den herrschenden Eigentumsverhältnissen und sich häufenden sozioökonomischen Krisenerscheinungen gesucht werden müssen.
Wenn die Wohnungen ebenso wie Waschmaschinen, Weinregale und Würstchen als Waren be- und gehandelt werden, können Menschen ohne bzw. mit geringem Einkommen auf dem entsprechenden Markt nicht mithalten. Seit geraumer Zeit wird Arbeit (für die Unternehmer) immer billiger, Wohnraum (für die Niedriglöhner) immer teurer. Während die Reallöhne ein Jahrzehnt lang sanken, stiegen die Immobilienpreise und die Mieten – jedenfalls in den Ballungszentren, bevorzugten Stadtlagen und Boomtowns der Bundesrepublik. Eine überbordende Nachfrage bedeutet letztlich Mietmonopoly, also Klassenkampf auf dem Wohnungsmarkt.
Mit einer halbherzigen „Mietpreisbremse“ für Teilwohnungsmärkte, wie sie die Große Koalition von CDU, CSU und SPD nach langem Zögern eingeführt hat, ist das Problem nicht zu lösen. Es resultiert aus dem heutigen Finanzmarktkapitalismus, dessen Hauptakteure das Immobiliengeschäft erobert haben, als man fast überall städtische Wohnungsbaugesellschaften privatisierte und Private-equity-Firmen („Heuschrecken“) wie Blackstone, Cerberus oder Fortress massenhaft kommunale Wohnungsbestände aufkauften, die für sie attraktive Spekulationsobjekte darstellten. Vormals preisgünstige Mietwohnungen wurden teilweise systematisch heruntergewirtschaftet, saniert und zu teuren Eigentumswohnungen gemacht. In den Metropolen wurden geeignete Viertel einem Prozess der Gentrifizierung unterworfen.
Da viele Kapitalanleger im Gefolge der globalen Finanz-, Weltwirtschafts- und europäischen Währungskrise weitere Bankpleiten und Börsenzusammenbrüche fürchteten, wurde „Betongold“ immer beliebter und boomt die Immobilienbranche wie nie zuvor. Mittlerweile hat der von Deutsche Annington in Vonovia umbenannte Immobilienriese den Chemiekonzern Lanxess aus dem Dax verdrängt. Erstmals gehört damit ein Wohnungskonzern zu den 30 wertvollsten börsennotierten Firmen des Landes.
Die durch zahlreiche Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Rentenreformen verschiedener Bundesregierungen vorangetriebene US-Amerikanisierung des Sozialstaates führt zwangsläufig zu einer US-Amerikanisierung der Sozialstruktur (Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich), einer US-Amerikanisierung der Stadtentwicklung (Spaltung der Großstädte in Luxusquartiere, sog. Gated Communities, und Armengettos oder „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf“, wie sie beschönigend genannt werden) und nicht zuletzt einer US-Amerikanisierung des sozialen Klimas (Reichtum gilt als Belohnung für „Leistungsträger“, Armut als gerechte Strafe für „Leistungsverweigerer“).
Mittlerweile ist der Wohlfahrtsstaat hierzulande so weit demontiert, dass er selbst Wohnungslosigkeit produziert. Genannt seien im Rahmen von Hartz IV das Aus- und Umzugsverbot für Unter-25-Jährige, die rigide Sanktionspraxis für diese Personengruppe (völlige Streichung des Arbeitslosengeldes II einschließlich der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach der zweiten Pflichtverletzung) sowie die im Frühjahr 2011 neu geschaffene Möglichkeit zur Ermächtigung der Kommunen durch das jeweilige Bundesland, eine Mietobergrenze oder eine Wohnpauschale festzusetzen. Dies würde einer sozialräumlichen Segregation der Armutspopulation, die sich in deutschen Großstädten bereits erkennen lässt, Vorschub leisten, denn zahlreiche Hartz-IV-Empfänger/innen wären gezwungen, ihre bisher vom zuständigen Grundsicherungsträger bezahlte Wohnung in einem gutbürgerlichen Stadtviertel aufzugeben und in eine Hochhaussiedlung am Stadtrand zu ziehen, wo die Mieten niedriger sind.
Wenn neben Geflüchteten nicht auch immer mehr Einheimische in Zeltstädten und Notquartieren leben sollen, muss der Staat einen steuer-, sozial- und wohnungspolitischen Kurswechsel vornehmen. Statt der Wohnungslosigkeit bekämpft er manchmal lieber die davon Betroffenen. Obdachlose sind die „marktfernsten“ Gesellschaftsmitglieder, denen aus diesem Grund im Zeichen der neoliberalen Globalisierung bzw. Modernisierung nur sehr geringe Ressourcen und wenige Unterstützungsmaßnahmen wie Notunterkünfte, Nachtasyle und Kältebusse zur Verfügung stehen. Für auf der Straße lebende Menschen gilt zudem ein besonders rigides Armutsregime: Polizeirazzien, Platzverweise, Aufenthaltsverbote und Schikanen privater Sicherheitsdienste sind typisch dafür.
Nötig wäre eine Wiederbelebung des Sozialen Wohnungsbaus. Ohne einen grundlegenden Kurswechsel in der Stadtentwicklungs- und Wohnungspolitik wird die Obdachlosigkeit in Deutschland weiter zunehmen. Ein gesetzlicher Mindestlohn, der 10 Euro oder mehr betragen müsste und keine Ausnahmen kennen dürfte, könnte dazu beitragen, den Niedriglohnsektor einzudämmen. Auch eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung, die ohne Pauschalierung der Wohn- und Heizkosten auskommt, gehört zu den erforderlichen Gegenmaßnahmen.
Sinnvoll wären die Schaffung einer Millionärssteuer, die Wiedererhebung der Vermögensteuer sowie eine Anhebung der Erbschaft- und Schenkungsteuer auf große Betriebsvermögen. Entweder ist der Staat bereit, erheblich mehr Geld auszugeben – was bei Verzicht auf Steuererhöhungen ein Ende der „schwarzen Null“ und diverser „Schuldenbremsen“ bedeuten würde –, oder die Kluft zwischen Arm und Reich wird sich drastisch vertiefen. Betreibt die Bundesregierung jedoch weiterhin Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung, könnte die wachsende soziale Ungleichheit den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden und der Demokratie gefährlich werden.
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