„Rolf Söhnchen ist Ombudsmann für den Justizvollzug NRW“, titelte der Waterbölles am 16. April 2007. Inzwischen hat die Landesregierung dem Amtsgerichtsdirektor a. D. aus Remscheid neben einem Büro mit vier bis fünf Mitarbeiter/innen auch eine eigene Internetseite eingerichtet. Dort findet sich auch der erste Jahresbericht des Ombudsmanns für 2007/2008. Denn den ersten Eingaben von einem Bediensteten, einem Gefangenen und einem Angehörigen, die bei Rolf Söhnchen am 8. Mai 2007 eingingen, folgten bis Ende Februar 2008 weitere 793. Weil es insbesondere für Gefangene nicht unproblematisch sei, ihre Anliegen schriftlich zu verfassen, habe er sich entschlossen, in den Justizvollzugsanstalten Sprechtage einzurichten, ist in Söhnchens Bericht nachzulesen. Allein in den ersten viereinhalb Monaten sprach der Ombudsmann mit mehr als 220 Gefangenen und Bediensteten. Merke: In Nordrhein-Westfalen sitzen rund 18.500 Straftäter in 37 Justizvollzugsanstalten (JVA) mit 6.500 Mitarbeitern ein. „Da bin ich gut drei Monate im Jahr unterwegs“, sagte der frühere Leiter des Amtsgerichts Remscheid gestern im SPD-Parteibüro an der Elberfelder Straße. Dorthin hatte ihn Rita Jungesblut-Wagner, die Vorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft „60 plus“, im Rahmen der Reihe „Was macht eigentlich…?“ eingeladen. Und für die Antwort von Rolf Söhnchen interessierten sich mehr als 30 Seniorinnen und Senioren. Der nächste Termin in seinem Kalender: Heute ist Sprechtag in der JVA Bielefeld-Brackwede.
„Die Aufgaben des Ombudsmannes und seines Teams sind Vermittlung, Empfehlung, Hinweis und Bericht, ebenso wie der Dialog mit der Vollzugsverwaltung. Dabei wird in vielen Gesprächen den Dingen auf den Grund gegangen und geholfen, konträre Positionen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und einen vernünftigen Interessenausgleich herbeizuführen“, so die Aufgabenbeschreibung im Internet. „Ich kann nur Dinge anstoßen“, zeigte sich Rolf Söhnchen gestern gegenüber den SPD-Mitgliedern bescheiden. Um dann fortzufahren: „Aber was in meinem Jahresbericht steht, ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Daraus sind bislang 40 parlamentarische Anfragen hervorgegangen!“ Söhnchen, in Remscheid als angenehmer Plauderer und zugleich für ein klares Wort bekannt, vergleicht JVA mit MVA (Müllverbrennungsanlage): „Beide stehen gelegentlich nebeneinander draußen vor der Stadt auf dem freien Feld. Man hat den Eindruck, auch die Strafgefangenen würden dorthin entsorgt.“
Söhnchen zeichnete ein realistisches Bild des Strafvollzugs in Nordrhein-Westfalen – ohne großen Hoffnungsschimmer am Horizont: „Der Vollzug ist extrem erwartungsüberfrachtet. Man traut ihm zuviel zu, was er nicht leisten kann!“ Beispiel Jugendvollzug: „Die durchschnittliche Haftstrafe von Jugendlichen, an denen sich zuvor schon Eltern, Lehrer und Sozialarbeiter abgearbeitet haben, liegt bei zwei Jahren. Mir sagen aber die Anstaltsleiter, um die Jugendlichen auf eine andere Spur zu setzen, bedürfe es bis zu vier Jahren!“ Folglich gelinge das nur, wenn man sich um diese Jugendlichen vor und nach der Haftstrafe bemühe.
Zum Nachher: Es wäre gut, wenn sich Bewährungshelfer intensiver als bisher um entlassene Jugendliche kümmern könnten. Doch bei etwa 60 Probanden (Juristensprache) pro Bewährungshelfer ist der Zeitkorridor für jeden Einzelnen schon jetzt sehr eng. Söhnchen: „Das bedürfte eines großen Einsatzes von Menschen und Material. Aber mit zusätzlichen öffentlichen Ausgaben in diesem Bereich kann keine Partei eine Wahl gewinnen …“
Und zum Vorher: „Wir müssen uns um den Nachwuchs in frühen Jahren kümmern. Da werden die Weichen gestellt. Wir müssen bei den Zwei- und Dreijährigen anfangen!“ Wie sich das Sozialverhalten eines Menschen entwickele und wie seine Bildungsbereitschaft, das entscheide sich im Elternhaus. Leider seien die Verhältnisse in vielen Familien desolat. Und zu den Fehlern mancher (des Kochens unkundiger) Mütter, die statt eines Frühstück zuhause den Kindern Geld mit auf den Weg zur Schule gäben, kämen die Fehler der Politik, meinte der Ombudsmann speziell an die Adresse der Sozialdemokraten: „Der Bildungsanspruch wurde ersetzt durch materielle Zuwendung. Die stellte die Leute ruhig, ließ aber ihre Kraft erlahmen, sich aus eigener Kraft weiterzuentwickeln!“ Ergebnis der Rechnung „Herkunft gleich Zukunft“ seien Straftäter, bei denen man „vernünftiges Denken nicht unterstellen kann. Viele halten sich für völlig unschuldig!“ Und es gebe viele JVA-Insassen, die würden die Chancen einer beruflichen Ausbildung nicht nutzen, die ihnen dort geboten werde. Söhnchen: „Ich habe mal sechs 25- bis 28-jährige Insassen der JVA Bochum-Langendreer gefragt, warum sie sich zum Garten- und Landschaftsbauer ausbilden ließen. Fünf davon antworteten: Weil das mit Offenen Vollzug (Freigang) verbunden sei. Ausüben wollten sie den Beruf später nicht.“ Und im Jugendvollzug hörte der Ombudsmann schon häufiger die Bitte um Versetzung in den Erwachsenenvollzug. Begründung des Jugendlichen: „Dann habe ich meine Ruhe (vor Ausbildung)!“
Mit solchen jugendlichen Straftätern über den „Drehtüreffekt“ zu reden dürfte vergebliche Liebesmüh sein. Ohne Ausbildung lernen ihn viele nach ihrer Haftentlassung über kurz oder lang kennen – wenn sie wieder im Knast landen. Eine solche „Karriere“ aus Haftstrafen und Hartz IV koste den Steuerzahler zwischen einer und 1,2 Millionen Euro, auf ein Menschenleben gerechnet, sagte Rolf Söhnchen. Resozialisierung zahle sich also nicht nur aus humanitären, sondern auch aus ökonomischen Gründen aus.
Von den 794 Eingaben an den Ombudsmann bis Februar 2008 stammten 695 von Gefangenen, 56 von Angehörigen und 43 von den Mitarbeitern, die in den Justizvollzugsanstalten ebenfalls ein schweres Leben hätten. „Die Anstalten sind soziale Brennpunkte, in denen jeder dritte Gefangene schon einmal psychisch auffällig geworden ist. Da ist es für die Bediensteten nicht immer leicht, die Fassung zu wahren, wenn sie beschimpft oder angegriffen werden“, meinte Rolf Söhnchen. Deshalb komme es bei den JVA-Bediensteten, zumal sie auch Sozialarbeit zu leisten hätten, „auf qualifizierte Auswahl und Fortbildung“ an. Nicht immer habe er da den besten Eindruck, ließ der Ombudsmann durchblicken, indem er ein Beispiel nannte: „Es gibt Anstalten, da wird die Bekleidung der Insassen nummeriert; nach der Wäsche bekommt so jeder seine ‚eigene’ zurück. In anderen Anstalten macht man das – aus Bequemlichkeit? – nicht; da ist der Wäscheverschleiß viel höher. So gibt es in den JVA eine Fülle von Kleinigkeiten, die besser geregelt werden könnten!“ Morgen hat der Ombudsmann Sprechtag in der JVA Hövelhof, übermorgen in der JVA Gelsenkirchen. Es gibt viel zu tun.