„Markt ohne Moral? – Braucht die Wirtschaft neue Werte?“ Das Thema klang vielversprechend und war dem gestrigen 3. Jahresempfang des Evangelischen Kirchenkreises Lennep angemessen. „Konkurrenzdruck, Globalisierung und extreme Renditeerwartung haben alte Werteordnungen ausgehebelt. Gelten soziale Verantwortung und Gemeinnutz in den Führungsetagen der Unternehmen nur als belächelte Relikte der Vergangenheit?“ Die Einladung von Superintendent Hartmut Demski machte neugierig. Über diese Fragen sollten gestern Abend im Vaßbendersaal an der Evangelischen Stadtkirche der WDR-Redakteur Horst Kläuser, der Unternehmer Dr. Manfred Diederichs (Dirostahl), der Bonner Verleger Norman Rentrop, Marketingleiter Jörg Koch to Krax (Stadtsparkasse Remscheid) und Pfarrer Dr. Uwe Becker diskutieren. Pech, dass Rentrop auf der Autobahn zwischen Bonn und Köln steckenblieb und Kläuser vor einigen Tagen wegen einer Erkrankung absagen musste. Für ihn sprang Frank Wiebe ein, Ratsmitglied der Grünen in Rösrath und Redakteur des „Handelsblatts“ in Düsseldorf, von seinem Arbeitgeber im Internet als „Finanz-Allrounder“ vorgestellt. Zeit zur Vorbereitung hatte er genug. Schade, dass er sie nicht nutzte. Seine Fragen, oft haarscharf am Thema vorbei, stellte er, als interessierten ihn die Antworten gar nicht. Kein Wunder, dass auf dem Podium eine gedrückte Stimmung zu herrschen schien. Das wäre dem Allrounder Kläuser nicht passiert.
„Es ist nie zu spät hinzusehen“, hieß es in einem der Lieder, die Donatus Weinert zu diesem Empfang beisteuerte. „Die Zukunft menschlich zu gestalten ist jetzt an der Zeit!“ - Die Moral bewege sich gegenläufig zur Konjunktur, stieg Frank Wiebe ein. Bei wirtschaftlichem Aufschwung sei sie weniger angesagt als in Zeiten der Rezession. Eine These, die ein guter Einstieg in eine erste Runde hätte sein können. Doch der Moderator begann mit einer Gewissensfrage. Wann die Männer auf dem Podium das letzte Mal ein schlechtes Gewissen gehabt hätten. - ??? - Pfarrer Dr. Uwe Becker, von 2006 bis 2007 Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen und seitdem Mitglied im dreiköpfigen Vorstand des Vereins Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe e.V. in Düsseldorf, konnte mit dieser Frage am wenigsten anfangen. Und sagte es auch: „Es gibt Menschen, die begehen mit einem guten Gewissen die größten Gräueltaten, und andere tun mit einem schlechten Gewissen Gutes!“ In moralische Kategorien lasse sich der „hoch anonymisierte Kapitalmarkt, der die Finanzkrise provoziert hat“, nun einmal nicht fassen. Und egal, wie das Gewissen eines Investmentbankers ausgeprägt sei: „Mit seinem Job verbieten sich bestimmte moralische Werte!“ Systemveränderungen könnten nur von einem „starken Staat ausgehen, der massiv eingreift!“
„Markt ohne Moral?“ ist, darauf wies Frank Wiebe hin, auch der Titel eines Buches, das die promovierte Nationalökonomin Susanne Schmidt geschrieben hat, Tochter von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt und seiner Ehefrau Loki. Es handelt von „Geld gewordenen Männerfantasien“ (Zitat aus einer Buchbesprechung). Sie arbeitete in London 20 Jahre als leitende Bankerin und zehn Jahre als Finanzjournalistin. (Die Banker, meint die Autorin, hätten den Bezug zur realen Welt verloren. Dabei seien sie gar nicht einmal unmoralisch, vielmehr amoralisch. „Die Tatsache, dass der Bürger mit seinem Steuergeld und seinem Arbeitsplatz für die derzeitige Bankenkrise bezahlt, ficht die Hochverdienenden in der City schon überhaupt nicht an. Wer Schuldgefühle entwickelt, ist fehl am Platz.“)
Da konnte sich Dr. Uwe Becker also in guter Gesellschaft wissen: Eine Insiderin bestätigte seine Meinung. Wer aber kommt überhaupt als moralische Instanz in Frage, die lenkend eingreifen könnte in einer Zeit, die, so Becker, „Millionen von Erwachsenen und Kindern in dramatische Lebenslagen getrieben hat“? Die Politik!? Fast auf den Tag genau vor einem Jahr hatte der Pfarrer auf dem „Zukunftskongress“ der nordrhein-westfälischen SPD in Oberhausen eine grundlegende Wende in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gefordert. Die Armutsrisiken müssten verringert werden. Das Problem sei nicht die mangelnde Anstrengungsbereitschaft der Erwerbslosen, sagte Becker damals, sondern die Tatsache, dass es zu wenig Erwerbsarbeit und zu viele „desolate“ Beschäftigungsverhältnisse gebe, die nicht vor Armut schützen könnten. Soziale Verwerfungen, denen sozialpolitisch gegengesteuert werden müsse. Stattdessen, so Beckers Kurzfassung gestern Abend, „äußern sich Politiker entsolidarisierend, sprechen von spätrömischer Dekadenz!“ (Anm.: Damit war Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) gemeint, der im Februar in einem Gastbeitrag für die Zeitung „Die Welt“ geschrieben hatte: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein. An einem solchen Denken kann Deutschland scheitern.“) Die Gegenthese von Pfarrer Dr. Uwe Becker: „Mehr Steuern (bei Besserverdienenden) abschöpfen und für Verteilungsgerechtigkeit sorgen!“ (Donatus Weinert sang, wie beim Arbeitnehmerempfang im Rathaus am 30. April, „Ohne Werte verwildert eine Gesellschaft!“)
Dass Werte verloren gehen, dass jemand, der sie hoch hält, mit Kritik rechnen muss, schilderte Jörg Koch to Krax am Beispiel des sozialen Engagements der Stadtsparkasse über ihre Stiftung: „Von jüngeren Leuten ohne Kinder höre ich gelegentlich: ‚Warum Spielgeräte für Kindertagesstätten stiften oder Fernseher für Altenheime? Erhöht lieber die Zinsen für mein Sparguthaben!“ Grundsätzlich aber sei das moralische Empfinden der Bürger noch relativ ausgeprägt, wandte Dr. Uwe Becker ein. „Das sieht man an der allgemeinen Politikverdrossenheit!“ Die Menschen verstünden nicht, dass ein einzelner Banker im Jahr 25 Millionen Euro verdiene, ohne dass die Politik Einhalt gebiete. „Da spalten sich Lebenswelten! Die Politik hat hier eine moralische Verantwortung!“
„Der Unternehmer ebenso“, betonte Dr. Manfred Diederichs, Vizepräsident der bergischen Industrie- und Handelskammer. Der bodenständige Chef von Dirostahl in Lüttringhausen, dessen Schmiede-Vorfahren sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen lassen, räumte ein, es gebe Unternehmer, die handelten nach dem Grundsatz „Eine geringe Reklamationsquote zeigt nur, dass ich zu teuer eingekauft habe!“ Doch er halte es lieber weiter mit dem Motto „Wer das Vertrauen seiner Kunden nicht enttäuscht, hat auch wirtschaftlichen Erfolg!“ – „Eine Diskussion, in der sich unterschiedliche Welten begegnet sind“, resümierte später Superintendent Hartmut Demski.