Erstmals erschien die Reportage
im Waterbölles am 24. Dezember 2007 |
„Danke“ sagt der Mann mit dem langen, zotteligen schwarzen Haar, Stoppelbart und stark behaarter Brust (alle Knöpfe des Hemdes stehen offen), dem Margit Dorfmüller-Hake gerade eine Weihnachtstüte mit Obst, Süßigkeiten, Tabak, Kaffeepulver und Hygieneartikeln überreicht hat. „Danke“ sagt er, ergreift wieselflink die noch ausgestreckte Hand und küsst sie. Die engagierte Hastenerin hat sich zum „Wichteln“ beim letzten Einsatz des „Medimobils“ vor Weihnachten das rot-weiße Kostüm eines Nikolaus übergezogen nebst passender Zipfelmütze. Im Fahrzeug warten, verstaut unter der Krankentrage, noch viele Tüten darauf, an diesem Abend an Menschen verteilt zu werden, die am Rande dieser Gesellschaft leben, wenn gleich mitten unter uns: im städtischen Obdachlosenheim an der Schüttendelle, in einem Mietshaus an der Rosenhügeler Straße mit kleinen Ein-Zimmer-Appartements und in dem aus mehreren älteren Häusern bestehenden Wohnheim an der Neuenkamper Straße („Haus Dresen“). Eine feste Arbeit haben die wenigsten, die hier „ein Dach über dem Kopf gefunden haben“. Viele sind alkohol- oder tablettenabhängig, haben das Wartezimmer eines Arztes schon lange nicht mehr gesehen. Weil sie anders aussehen als andere Patienten. Oder weil sie „,müffeln“. Armut riecht, besonders die Armut der Menschen, die die meiste Zeit des Tages auf der Straße verbringen. Zum Arzt zu gehen würde bedeuten, sich den Blicken anderer Patienten auszusetzen.
Andere könnten gar nicht zum Arzt gehen, selbst wenn sie wollten. Weil sie den Schutz einer Krankenversicherung verloren haben. Und das kann schnell gehen: Arbeitslos geworden, sich nicht rechtzeitig bei der ARGE gemeldet und Hartz IV beantragt - schon ist es vorbei mit dem Krankenschutz. Da bleibt dann allein die basismedizinische Versorgung jeden Mittwoch, wenn das „Medimobil“ vor der Haustür Station macht.
Es liegt schon ein paar Jahre zurück, da sprach Dr. Frank Neveling, damals noch im Gesundheitsamt der Stadt Wuppertal tätig, mit einem befreundeten Betriebsarzt über Obdachlose. Ihre Erkenntnis damals: „Wenn sie nicht zu uns kommen, müssen wir zu ihnen kommen!“ Die Idee eines ehrenamtlichen ärztlichen Dienstes war geboren und auch der Name schnell gefunden: „Medimobil“. Was mit einem Arztkoffer und einem alten Feldbett in einem betagten Lieferwagen am Döppersberg in Wuppertal begann, einem bekannten Treffpunkt von Drogenabhängigen und Wohnungslosen, umfasst längst auch Remscheid: Frank Neveling hatte das „Medimobil“ quasi „im Gepäck“, als er die Leitung des Gesundheitsamtes der Stadt Remscheid übernahm.
Das „Medimobil“ ist inzwischen ein ausgemusterter rot-weißer Krankenwagen, eine Spende der Remscheider Feuerwehr. Er fährt in beiden Großstädten nach festem Plan (mittwochs in Remscheid, donnerstags in Wuppertal), besetzt mit einem Arzt, einer Arzthelferin oder Krankenschwester, dem Fahrer und nicht selten auch mit einem Sozialarbeiter. Allein in Remscheid teilen sich neun Ärzte den ehrenamtlichen Dienst, darunter praktizierende Hausärzte und pensionierte Chefärzte von Krankenhäusern in Radevormwald und Hückeswagen. Organisatorisch ist der Dienst unter dem Dach der „Wuppertaler Tafel“ e.V. angesiedelt, der auch die Spenden von Firmen und Bürgern im bergischen Städtedreieck entgegennimmt, ohne die es nun einmal nicht geht. (Weshalb an dieser Stelle auch die Kontodaten vermerkt sind: Wuppertaler Tafel e.V., Konto 118117 bei der Stadtsparkasse Wuppertal, BLZ 33050000, Stichwort „Spende Medimobil“.)
Das Team bei diesem letzten Einsatz vor Weihnachten besteht aus dem Arzt Dr. Jusef Hadjamu, der Helferin Margit Dorfmüller-Hake, dem Fahrer Peter Oeligmann (im Wechsel mit Wolfgang Zur), und einer „weihnachtlichen Verstärkung“ in Gestalt von Lothar Neumann. Auch er steckt in einem Nikolaus-Kostüm, hat sich obendrein einen weißen Rauschebart umgebunden und hilft beim Verteilen der Tüten. Gelegentlich fragt er die Beschenkten, ob sie auch ein Weihnachtsgedicht aufsagen könnten. Und weil er dann jedes Mal Kopfschütteln erntet, trägt er hin und wieder selbst eines vor. Dann verstummen die Gespräche der umstehenden Hausbewohner.
„Zeit für Menschen zu haben, zu denen sonst keiner kommt, das ist vielleicht der wichtigste Dienst unseres Medimobils“, beschreibt die Wuppertaler Tafel im Internet ihren Dienst am Mitmenschen. „Menschliche Wärme brauchen unsere Patienten mindestens so dringend wie Schmerztabletten, Mittel gegen Erkältung und Asthma, Wundsalben und Antibiotika. Wie oft kann ein persönliches Gespräch wieder Mut machen, den Kampf gegen Alkohol und Drogen aufzunehmen.“
Deshalb fährt auch oft ein Sozialarbeiter des Sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt Remscheid mit, Thomas Korthals oder Gerd Dürr (links im Bild). Von ihnen haben die Menschen, die zum „Medimobil“ kommen, keine moralischen Vorhaltungen zu erwarten. Wohl aber können sie mit konkreten Hinweisen rechnen, was weitere Hilfsangebote betrifft. Zum Beispiel die Rückkehr in den Schutz einer Krankenversicherung.
Im Inneren des „Medimobils“ hängt ein Schild, unübersehbar: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!!“ Vor der Seitentür hat sich eine kleine Schlange gebildet. Ein halbes Dutzend Männer wollen an diesem Abend den Arzt sprechen. Der eine möchte seinen Blutdruck messen lassen, ein anderer klagt über Kopfschmerzen. „20 bis 30 Patienten sind es auf jeder Tour“, sagt Dr. Frank Neveling. Sie erhalten Salben, Asthmaspray, Antiallergika oder Mittel gegen Erkältung. Nicht selten müssen auch Verletzungen, Abszesse und offene Beine behandelt werden. Es scheint, als seien bestimmte Krankheiten mit Armut fest verbunden. Die Medikamente – Spenden von Ärzten und Apothekern – könnten mehr sein. Denn die Nachfrage ist gestiegen, hat Wolfgang Nielsen von der Wuppertaler Tafel erkannt. Ältere Menschen seien als Bedürftige hinzugekommen, weil sie sich eine „normale“ ärztliche Versorgung nicht mehr leisten könnten.
Im städtischen Obdachlosenheim an der Schüttendelle klagt ein Mann über starke Zahnschmerzen. Tatsächlich ist eine akute Entzündung im Mundbereich die Ursache. Während Dr. Hadjamu den Patienten behandelt, gehen die beiden „Nikoläuse“ durch den Flur des ehemaligen Asylantenheimes (im September war es umgewidmet und renoviert worden) und klopfen an den Türen der Ein- und Zweibettzimmer. Doch niemand öffnet. „Die übrigen acht Bewohner sind noch alle unterwegs, irgendwo draußen“, sagt der Hausmeister. Also werden die Tüten wieder im „Medimobil“ verstaut; zurücklassen will man sie nicht. „Wer weiß, wo die dann landen…“ Dann doch besser am nächsten Tag noch mal vorbeischauen.
Im Mietshaus an der Rosenhügeler Straße, wo manche ein (von der Stadt Remscheid bezahltes) Zimmer gefunden haben, die vorher obdachlos waren, dringt aus einem Raum das ohrenbetäubende Krächzen eines Papageis. Er sitzt in einem Käfig am Fenster, ist aber bei Weitem nicht das Ungewöhnlichste in diesem Raum: Er ist über und über mit naiven Bildern beklebt. „Hier hat das ZDF gedreht“, weiß Margit Dorfmüller-Hake. Am 13. Oktober dieses Jahres berichtete das ZDF über das „Medimobil (Im Internet können Sie sich den Film ansehen unter dem Link http://wstreaming.zdf.de/zdf/300/070914_muetter_dde.asx ansehen, sofern Ihr Computer über entsprechenden Software verfügt.) Doch über die Fernsehleute wird an diesem Abend nicht mehr weiter gesprochen. Die Frau weint, braucht den Trost von Margit und Lothar. Ihr Lebensgefährte ist vor wenigen Tagen gestorben. Viele Bilder an den Wänden zeigen ihn oder sind ihm gewidmet. Der Papagei ist nicht zur Ruhe zu bringen. Wahrscheinlich ist er so viele Menschen in dem kleinen Raum nicht gewohnt.
Auf dem Rückweg zum Krankenwagen geht eine Türe auf. Der Mann, dem „Nikolaus“ Lothar Neumann ein paar Minuten vorher zwei Tüten in die Hand gedrückt hatte für sich und seine Frau, in der einen Tüte unter anderem eine kleine Flasche Sekt und in der anderen ein Fläschchen Schnaps, gibt beides zurück: „Ich trinke nur Bier, und meine Frau trinkt gar keinen Alkohol mehr. Gott sein Dank!“